MPU-Ratgeber und Cannabis-News
19.11.2022
Vorbemerkung
Diese Handlungsempfehlung richtet sich vorranging an Ärzte und Psychologen, die im Rahmen der Fahreignungsbegutachtung mit Fragestellungen rund um die Cannabismedikation konfrontiert sind. Sie wurde im Auftrag der Vorstände der DGVM und der DGVP von der StAB unter Mitwirkung von
Prof. M. Graw erstellt und soll bis zu einer Überarbeitung der Beurteilungskriterien (DGVP, DGVM, Schubert, W., Dittmann, V. & Brenner-Hartmann, J., 2013) und der Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung (BASt, Gräcmann, N., Albrecht, M., 2017), in denen diese spezielle Fallgruppe noch keinen Eingang gefunden hat, die Arbeit der Gutachter unterstützen und dazu beitragen, dass Fahreignungsgutachten nach möglichst einheitlichen Maßstäben erstellt werden können. Die Grundzüge der hier zusammengestellten Empfehlungen wurden auf dem 13. Gemeinsamen Symposium der DGVP und DGVM am 6.-7.10.2017 in Leipzig in den Workshops 3 und 8 vorgestellt und diskutiert. Mit dem am 10. März 2017 in Kraft getretenen Gesetz zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften hat der Gesetzgeber die Möglichkeiten zur Verschreibung von Cannabismedikamenten erweitert. Ärztinnen und Ärzte können künftig auch Medizinal-Cannabisblüten oder Cannabisextrakte in pharmazeutischer Qualität auf einem Betäubungsmittelrezept verschreiben. Dabei müssen sie arznei- und betäubungsmittelrechtliche Vorgaben einhalten. Neben den neuen Regelungen bleiben die bisherigen Therapie- und Verschreibungsmöglichkeiten für die Fertigarzneimittel Sativex® und Canemes® sowie das Rezepturarzneimittel Dronabinol bestehen.
Im Absatz 6 des Paragrafen 31 des 5. Sozialgesetzbuchs (SGB V) ist die Indikation zur Cannabisvergabe wie folgt geregelt:
(6) Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung haben Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln1 mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilen, wenn 1. eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung
a) nicht zur Verfügung steht oder
b) im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter
Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung
kommen kann,
2. eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht.
Die Leistung bedarf bei der ersten Verordnung für eine Versicherte oder einen Versicherten der nur in begründeten Ausnahmefällen abzulehnenden Genehmigung der Krankenkasse, die vor Beginn der Leistung zu erteilen ist. Verordnet die Vertragsärztin oder der Vertragsarzt die Leistung nach
Satz 1 im Rahmen der Versorgung nach § 37b, ist über den Antrag auf Genehmigung nach Satz 2 abweichend von § 13 Absatz 3a Satz 1 innerhalb von drei Tagen nach Antragseingang zu entscheiden. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte wird mit einer bis zum 31. März 2022 laufenden nichtinterventionellen Begleiterhebung zum Einsatz der Arzneimittel nach Satz 1 beauftragt. Die Vertragsärztin oder der Vertragsarzt, die oder der die Leistung nach Satz 1 verordnet, übermittelt die für die Begleiterhebung erforderlichen Daten dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte in anonymisierter Form; über diese Übermittlung ist die oder der Versicherte vor Verordnung der Leistung von der Vertragsärztin oder dem Vertragsarzt zu informieren. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte darf die nach Satz 5 übermittelten Daten nur in anonymisierter Form und nur zum Zweck der wissenschaftlichen Begleiterhebung verarbeiten und nutzen. Das Bundesministerium für Gesundheit wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung, die nicht der Zustimmung des Bundesrates bedarf, den Umfang der zu übermittelnden Daten, das Verfahren zur Durchführung der Begleiterhebung einschließlich der anonymisierten Datenübermittlung sowie das Format des Studienberichts nach Satz 8 zu regeln. Auf der Grundlage der Ergebnisse der Begleiterhebung nach Satz 4 regelt der Gemeinsame Bundesausschuss innerhalb von sechs Monaten nach der Übermittlung der Ergebnisse der Begleiterhebung in Form eines Studienberichts das Nähere zur Leistungsgewährung in den Richtlinien nach § 92 Absatz 1 Satz 2 Nummer 6. Der Studienbericht wird vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte auf seiner Internetseite veröffentlicht. Es war demnach vom Gesetzgeber erwartet worden, dass es sich bei den mit Cannabis therapierten Personen ausschließlich um schwerwiegend Erkrankte handelt, so dass im Vordergrund einer Fahreignungsüberprüfung zunächst die Erkrankung mit ihrer verkehrsmedizinischen Relevanz steht. Bei der Verordnung von Cannabisblüten kommt dem behandelnden Arzt eine besondere Aufklärungspflicht zu, da diese kein formelles Zulassungsverfahren durchlaufen haben und die Aufklärung über Risiken, wie Neben- und Wechselwirkungen oder Einschränkungen bei der Verkehrsteilnahme oder der Bedienung von Maschinen, nicht einem Beipackzettel entnommen werden können. Aktuell besteht für Cannabisblüten für keine einzige Erkrankung eine arzneimittelrechtliche Zulassung. In den Jahren 2007 bis 2016 erhielten allerdings Patienten mit mehr als 50 verschiedenen Erkrankungen/Symptomen eine Ausnahmeerlaubnis vom BfArM für eine ärztlich begleitete Selbsttherapie mit Medizinal-Cannabis. Häufigere Anwendung finden Cannabis-basierte Medikamente bei chronischen – insbesondere neuropathischen – Schmerzen, Spastik bei MS, Appetitlosigkeit, Übelkeit und Erbrechen. Empirisch nicht hinreichend gesicherte Hinweise für positive Wirkungen liegen für eine Vielzahl weiterer Erkrankungen/Symptome vor. Sie reichen von neurologischen (Spastik und Schmerzen unterschiedlicher Ursachen, hyperkinetische Bewegungsstörungen), über dermatologische (Neurodermitis, Psoriasis, Akne inversa, Hyperhidrosis), ophthalmologische (Glaukom) und internistische (Arthritis, Colitis ulzerosa, Morbus Crohn) bis hin zu psychiatrischen Erkrankungen/Symptomen (Depressionen, Angststörungen, posttraumatische Belastungsstörung, Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung [ADHS], Schlafstörungen). Aufgabe des behandelnden Arztes ist es, unter Abwägung von Nutzen und Risiko über die medizinischen Indikationen (handlungsleitend ist hier nicht der Wunsch des Patienten) zu entscheiden und die Aufklärung und verkehrsmedizinische Beratung des Patienten sicherzustellen. In diesem Papier sollen Empfehlungen für die Fahreignungsbegutachtung von Personen gegeben werden, bei denen Eignungsbedenken aufgrund einer Dauermedikation mit Cannabismedikamenten sowie der Verschreibung von Cannabisblüten auf BtM-Rezept bestehen. Andere Fragestellungen, welche die Fahreignung von Cannabiskonsumenten ohne ärztliche Verordnung betreffen, sind nach den Regelungen in den Beurteilungskriterien (3. Auflage) zu bearbeiten. Es sind jedoch Mischformen mit illegalem Cannabisbezug oder mit einer ärztlich begleiteten Selbsttherapie auf Basis einer Ausnahmegenehmigung in der Vergangenheit zu erwarten, da sich die Rechtslage erst vor Kurzem geändert hat. Abhängig von der Fragestellung der Behörde an die Gutachter liegt der Schwerpunkt der Begutachtung in der Regel auf der aktuellen Situation. Dabei fällt der zuständigen Fahrerlaubnisbehörde im Zuge ihrer Amtsermittlungspflicht gemäß § 24 VwVfG zunächst die Aufgabe zu, den Anlassbezug für die Untersuchungsanordnung eindeutig zu klären, wobei sie ausschließlich Tatsachen, also beobachtbare Sachverhalte oder Umstände, nicht dagegen Vermutungen oder Spekulationen, berücksichtigen kann. Im Falle von Hinweisen auf eine schwere Erkrankung bilden die daraus abzuleitenden Eignungsfragen wie das Ausmaß der Leistungseinschränkung, die Art, Schwere, der Verlauf und die Behandlung (Erfolg, Compliance) den Schwerpunkt der Fragestellung. Kompensationsmöglichkeiten und ggf. assoziierte, weitere Risikofaktoren sind im Rahmen der ärztlichen Begutachtung für die Beurteilung einer sicheren Verkehrsteilnahme mit zu berücksichtigen. Da in der Rechtsprechung unterschieden wird zwischen der ärztlich verordneten Einnahme eines betäubungsmittelhaltigen Arzneimittels und der eigenmächtigen Einnahme einer illegal beschafften Droge, ist eine umfassende Sachverhaltsaufklärung als Ausgangspunkt für die Festlegung des Begutachtungsthemas und die daraus abgeleitete Fragestellung essentiell. Dies gilt in besonderem Maß für Fälle mit einer auffälligen verkehrsrechtlichen Vorgeschichte. In diesem Kontext ist der Betroffene verpflichtet, an der Sachverhaltsaufklärung mitzuwirken und kann dadurch, etwa durch Vorlage einschlägiger Unterlagen, die Vorabklärung von Eignungszweifeln wesentlich, auch zu seinen Gunsten, unterstützen.
Quelle: DGVP
Autor_RS - 12:57:12 @ Gesetze, Fahrerlaubnisverordnung, Begutachtungsleitlinien | Kommentar hinzufügen
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